Im Nordosten der Republik hat das Schrumpfen schon begonnen Kindertagesstätten und Banken schließen: Was weg ist, kommt nicht wieder Experten mahnen schon seit Jahren: Die Deutschen werden weniger. statt stetigem Wachstum wird es in Zukunft darum gehen, das schrumpfen zu gestalten. was das bedeutet, kann man im Nordosten der Republik bereits spüren, sehen, hören und manchmal sogar riechen.
Jaqueline war die letzte, die den Kindergarten in Buchenhain noch komplett durchlaufen hat. Schon als das heute achtjährige Mädchen aufgenommen wurde, schlug die Erzieherin Alarm: Sie lief zur Verwaltungsgemeinschaft der fünf brandenburgischen Dörfer, die sich die Einrichtung teilten, und sagte: „Bürgermeister, was können wir tun? Es gibt keine Kinder mehr.“
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Die Pädagogin hat gespürt, dass hier an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern etwas zu Ende geht. Rund 500 Einwohner leben in den Orten, bald die Hälfte Rentner, aber es gibt fast keine Kinderwagen mehr. Und die wenigen, die man sieht, stammen meist von Wochenendausflüglern aus Berlin oder von früheren Buchenhainern, die heute in Hamburg, Frankfurt oder Köln arbeiten und bei den Eltern nur noch zu Besuch sind.
Deshalb teilt die Kindertagesstätte nun das Schicksal der Läden und der Poststelle, sie ist geschlossen. In Fürstenhagen, dem ersten Ort auf der mecklenburgischen Seite, ist aus der Dorfschule längst eine Gaststätte geworden. Die Kinder fahren mit dem Bus 20 bis 45 Minuten zur Schule, von der ersten Klasse an. 60 Minuten, so hat es das Bildungsministerium in Schwerin kürzlich festgelegt, sind für Sechsjährige ein zumutbarer Schulweg. Mit den Leuten geht die Infrastruktur. Für Gerti Becker, 74-jährige Rentnerin in Falkenberg, gut 150 Kilometer südlich von Buchenhain, ist die Schließung der Postbank-Filiale der Grund, zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße zu gehen. Nicht einmal während der Wende in der DDR hat sie „Wir sind das Volk“ gerufen. Aber jetzt ist die schwerbehinderte Witwe empört. Tränen hat sie in den Augen, als sie mit rund 30 weiteren älteren Falkenbergern vor die Postbank zieht, die nun den Schalter schließt, an dem sich die Rentner ihr Geld holten. Zwischen 1993 und 2003 haben in Brandenburg rund 250 Haupt- und Nebenstellen dichtgemacht. Zuletzt zählte man im Jahr 2003 noch 800; seither gibt es für die Mark keine Statistik mehr. Rund 1600 Menschen leben heute noch in Falkenberg, versorgt durch einen Lebensmittelladen, einen Bäcker und einen Metzger.
Das Durchschnittsalter beträgt 64 Jahre. In den Nebenstraßen Falkenbergs hört man tagsüber keinen anderen Verkehr als den, den fünf verschiedene Pflegeunternehmen und fahrbare Mittagstische mit ihren Autos verursachen. Auch in Gehren in der Uckermark haben die meisten der verbliebenen Einwohner die Pensionsgrenze schon überschritten. Im Sommer vor einem Jahr hat es plötzlich im ganzen Ort fürchterlich gestunken. Tagelang wurde gerätselt, woher dieser beißende Fäkalgeruch stammt. Die Wasserwirtschaft fand dann heraus, dass die Einwohner nicht häufig genug Bad und Toilette benutzten, so dass zu wenig Wasser durch die Abwasserrohre floss. Alles, was nicht flüssig war, blieb liegen und stank. Seither soll doppelt gespült werden.
Im Berliner Institut für angewandte Demographie sprechen die Statistiker von einem „Paradigmenwechsel in der Moderne“: Seit 250 Jahren lief alles auf Zuwachs hinaus – mehr Bevölkerung, mehr Wirtschaftswachstum, mehr Wissen. Jetzt sei Schrumpfung das Thema. Besonders bekommen dies die Randregionen im Osten der Republik zu spüren, wo die demographische Entwicklung noch durch die massive Abwanderung der Leute verstärkt wird. Mehr als zwei Millionen Menschen haben die neuen Bundesländer seit 1990 verlassen; weitere werden ihnen folgen. Nach Berechnungen der Bevölkerungswissenschaftler werden bis 2020 jährlich 50 000 bis 100 000 zumeist junge Menschen in die westdeutschen Boomregionen wechseln. Vor allem gut ausgebildete Frauen ziehen weg, so dass schon heute im Osten auf 100 Männer nur noch etwas mehr als 80 Frauen kommen.
Geburtenknick erwartet
Während in Berlin, Leipzig, Potsdam und Dresden Zuwanderer die Bevölkerungsverluste in Grenzen halten, ist eine ähnliche Entwicklung in den Randgebieten nicht zu erwarten. Auch einen Zuwandererstrom aus Osteuropa wird es nach Ansicht der Demographen nicht geben, da dort die Geburtenraten inzwischen noch niedriger sind als in Deutschland. In fünf bis zehn Jahren erwarten die Experten für viele Regionen in Ostdeutschland einen Geburtenknick, der alle Negativ-Rekorde brechen wird. Denn diejenigen, die seit 1990 „rübergemacht haben“, wie man hier sagt, werden im Osten keine Kinder mehr bekommen. Zwar haben die meisten Länder begonnen, so genannte Rückkehragenturen mit angeschlossener Stellenbörse zu gründen – bisher jedoch mit überschaubarem Erfolg. 51 Fachkräfte seien mit Unterstützung von „MV4you“ im vergangenen Jahr ins Küstenland zurückgezogen. Das sächsische Internetportal „sachsekommzurueck“ meldet seit 2003 ganze 88 Vermittlungen von Jobs an Rückkehrer. Übereinstimmend geben fast alle Heimweh an.
Mit solchen Zahlen lässt sich kein Fachkräftemangel lindern und schon gar keine Tendenz umkehren. Im vorpommerschen Dreieck Eggesin, Torgelow und Ueckermünde am Stettiner Haff, einem traditionsreichen Militärgebiet, vergleicht man sich gern mit einer leerlaufenden Badewanne. Rund 6000 Soldaten waren hier im Einheitsjahr stationiert. Inzwischen hat die Bundeswehr sämtliche Standorte aufgegeben. Dem Abzug des Militärs folgte der Niedergang der Geschäfte und der Infrastruktur. Jetzt hofft die Kreisverwaltung Uecker-Randow, die fast schon leere Wanne mit Polen wieder aufzufüllen – leben doch östlich der Grenze in Stettin und Umgebung 800 000, auf deutscher Seite nur noch 80 000 Menschen. Trotz reichlich Werbung ist das ein mühsames Unterfangen. Erst gut ein Dutzend Studenten und nur wenige Familien konnten sich bislang für das frühere Stettiner Hinterland begeistern. Zwar macht sich rings um das Zuzugsprojekt noch keine Resignation breit, doch ob die Badewanne am äußersten Rand der Republik jemals wieder voll sein wird, ist offen. In der Kreisstadt Pasewalk hört man häufig den Satz: „Was einmal weg ist, kommt nicht wieder.“